Philosophische Praxis
Die Gunst der Stunde
Um über die Zeit zeitgemäß philosophieren zu können, muss ich mir ausreichend Zeit nehmen, damit ich, wenn es dann hoch an der Zeit ist, das Gedachte zu notieren, auch auf genügend Muße zurückblicken kann. Muße ist im Unterschied zur Freizeit jene Zeit, in der wir es zu einer Stille der Gedanken bringen und uns aufs Wesentliche konzentrieren.
Ich nehme mir also reichlich Zeit und versuche, sie für meine Zwecke zu gewinnen, d.h. ich lasse mir Zeit und lehne mich zurück. Freilich: Je mehr ich sie vergeude, desto eher drängt sie. Je dringlicher es wird, desto mehr spart sie sich auf. Doch lasse ich mich dann einmal von ihr nehmen, so ist sie augenblicklich reif. Dann habe ich sie voll und ganz für mich. In der Sprache der Poesie nennt man das die Gunst der Stunde.
Niemals liegt die Zeit offen zutage. Ohne ein Ding, eine Person, einen Gedanken, der sich in ihr manifestiert, der in ihr geordnet werden könnte, d.h. an sich, nackt, bar jeglichen Inhalts ist sie nicht wahrnehmbar. Sind wir in ihr, so erfüllen sich ihre Tage mit uns. Gehen wir in ihr auf, verschwindet sie und entlässt uns in die reine Gegenwart. Erst in eben dieser Gegenwart schaffen wir und erschaffen uns selbst, jetzt und in alle Zeit.
Doch so wie alle Welt stehe auch ich unter Zeitdruck. Gleich einer Verschütteten gilt es meine Zeit „freizuschaufeln“, wie es im Jargon heißt. Wie Jagdhunde hecheln meine Gedanken rund um die Zeitfenster meines Kalenders. Bellend treiben sie die von mir gefügte Zeit aus ihrem Bau. Und kommt sie dann verbeult und bruchstückhaft zum Vorschein – ach, du liebe Zeit“ – so muss ich sie halten, damit sie nicht entflieht und gleich zerrinnt. Manchmal bräuchte ich eine Zeitlupe, um meine Zeit überhaupt zu finden.
Die Zeit drängt. Was ist das Ziel? So viele leben in Unruhe und an der Kippe zur Überlastung. Eile und Angst sind ihre Gefährten geworden. Und dann gibt es welche, die versuchen ihre Zeit zu verschwenden, doch sie werden sie nicht los. Sie versuchen, die Zeit totzuschlagen, doch sie stirbt nicht und steht gnadenlos still.
So fragt sich: Wie viel Zeit kann ein Mensch überhaupt verkraften? Zur Durchführung dieses Experiments lege ich mich an einem lauen Sommernachmittag auf eine frisch gemähte Wiese. Die Sonne ist angenehm, ich bin gesättigt, meine Freunde schätzen mich, man liebt mich sogar. Und nun lasse ich mich fallen, sinke, immer tiefer und tiefer. Wellenartig durchströmen warme Glücksgefühle meinen Körper. Die Zeit wird weich und gibt nach. Ich habe jetzt alle Zeit der Welt. Aber was nun? Das kann es doch nicht gewesen sein!
Eins steht fest: Ich werde meine Zeit verlieren, ich verliere sie stets. Was bleibt, sind Erinnerungen. Die Zeit ist ein Rahmen, kein Inhalt, und es kommt darauf an, was man aus ihr macht. Ist nicht das größte aller Geschenke jenes, jemandem Zeit zu schenken? Sie lässt sich ohnehin nicht sparen und für bessere Zeiten bewahren. Also los!